Woche der Brüderlichkeit Festliche Eröffnungsveranstaltung

Onlineübertragung aus dem Saal des Alten Rathauses München
mit Grußworten von Staatsminister Dr. Florian Herrmann und Bürgermeisterin Verena Dietl
Festvortrag von Prof. Dr. Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München

Einwahldaten:
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Datum: Sonntag, 7. März 2021 
Beginn: 16.30 Uhr
Eintritt: frei

Woche der Brüderlichkeit 2021 „… zu Eurem Gedächtnis: Visual History“ 7. März bis 14. März

Von Sonntag, 7. März 2021 bis Sonntag, 14. März 2021 fand die Woche der Brüderlichkeit unter dem Motto „… zu Eurem Gedächtnis: Visual History“  statt. 

Die festliche Eröffnungsfeier
fand am 7. März 2021 im Saal des Alten Rathauses München mit Grußworten von Staatsminister Dr. Florian Herrmann und Bürgermeisterin Verena Dietl sowie einem Festvortrag von Prof. Dr. Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München statt.

Die weiteren Veranstaltungen im Rahmen der Woche der Brüderlichkeit finden Sie hier: Woche der Brüderlichkeit 2021

Prof. Mirjam Zadoff, Bürgermeisterin Verena Dietl und Staatsminister Dr. Florian Herrmann

 

 

 

 

 

Festvortrag von Prof. Dr. Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München

Sehr geehrter Staatsminister Dr. Hermann, sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Dietl, lieber Herr Dr. Renz, Herr Professor Pitum und Herr Rektor Schübel, meine sehr verehrten Damen und Herren,

„Zu Eurem Gedächtnis: Visual History“ – unter diesem Titel steht die Woche der Brüderlichkeit 2021, und ich bedanke mich für die Einladung, den Festvortrag zu halten. Es freut und ehrt mich, heute hier zu sein.

Als Historikerin des Nationalsozialismus und der jüdischen Geschichte ist „Visual History“ von zentraler Bedeutung für meine Arbeit. „Visual History“ – also die Visualität von Geschichte aber zugleich auch die Historizität des Visuellen – dieser Begriff wurde Anfang der 1990er Jahre im deutschsprachigen Raum eingeführt durch den Zeithistoriker Gerhard Jagschitz; ich gehörte damals zu seinen Studierenden an der Universität Wien. Jagschitz forderte eine ganzheitliche Auseinandersetzung mit dem Medium Bild in der Art, wie man kurz zuvor begonnen hatte, mit Tondokumenten im Bereich der Oral History umzugehen. Als Chronist des Nationalsozialismus und der im Namen des Regimes begangenen Völkermorde war Jagschitz die immense Bedeutung von Ton- und Bilddokumenten – zusätzlich zu gedruckten Quellen – bewusst. Denn die Annäherung an die Verbrechen kam einer schwierigen und mühevollen Spurensuche gleich: Viele Beweise waren von den Tätern vernichtet worden, und andere Quellen, die erst Jahrzehnte später auf Dachböden oder in Secondhand-Läden aufzutauchen begannen.

Damals, vor etwas mehr als 30 Jahren, hatten Historiker*innen gerade angefangen, die Erinnerungen von Überlebenden zu dokumentieren. 1985 war das epochale Werk von Claude Lanzmann, sein Film Shoa, erschienen: eine neunstündige Dokumentation und Sammlung von Interviews und aktuellen Ansichten der Orte der Verbrechen. Entstanden über einen Zeitraum von elf Jahren versuchte „Shoa“ eine erste Annäherung an die nicht darstellbaren Momente der Vernichtung. Lanzmann verzichtete auf den Einsatz historischer Fotographien und Filme, um die Konzentration ganz auf die Erzählungen zu fokussieren: die Erzählungen der Überlebenden, der Bystander/also der Zuschauer*innen und von (heimlich) gefilmten Tätern. Die ikonographischen Bilder seines Films begleiten uns bis heute – nicht zuletzt, da es nur eine Handvoll von Photographien gibt, die den millionenfachen Mord durch die Nationalsozialisten und ihre Helfershelfer festhalten. Diese Fotos zeigen etwa das jüdische Sonderkommando in Auschwitz Birkenau, schemenhafte Körper im Wald auf dem Weg zur Gaskammer, oder die 2009 aufgetauchte Fotographie von der Erschießung einer ukrainisch-jüdischen Familie – eine Aufnahme, die die Historikerin Wendy Lower in mühevoller, zehnjähriger Arbeit vor kurzem entschlüsselt hat.

Was sich oft nur wenige Meter von den Tötungsorten entfernt zugetragen hat, zeigen die vor einem Jahr entdeckten Fotographien aus dem Nachlass von Johann Niemann, dem stellvertretenden Kommandanten von Sobibor. In dieses Vernichtungslager an der Ostgrenze Polens wurden fast ausschließlich Jüdinnen und Juden deportiert, die meist unmittelbar nach ihrer Ankunft vergast wurden. Auf den Fotos aus Niemanns Nachlass sehen wir unter anderem, wie eine kleine Gruppe junger Männer und Frauen sich auf einer sonnigen Terrasse amüsiert – vor ihnen gut gefüllte Wein- und Biergläser. Eine harmlose Szene, wenn sie sich nicht in unmittelbarer Nähe zu den Gaskammern ereignete. Ähnliche Aufnahmen existieren vom Wachpersonal in Auschwitz – fröhliche junge Menschen, die sich in Liegestühlen räkeln, musizieren oder Blaubeeren essen: Aufnahmen aus der Solahütte, einem Erholungsheim der SS in idyllischer Landschaft mit Seeblick, 30 km von Auschwitz entfernt, dem Lager, in dem über eine Million Menschen – Jüdinnen, Juden, Roma, Sinti, Polen und andere – ermordet wurden. Die Bilder des feiernden Mordpersonals zeigen keine Grausamkeiten, keinen Schrecken, sie zeigen keine Deportierten oder Ermordete. Trotzdem gehören sie mit zu den eindrücklichsten Aufnahmen der Vernichtung und des Genozids: Menschen, die ihr Leben genießen, während sie tagtäglich unvorstellbares Leid hervorrufen, beaufsichtigen oder beobachten.

Der Blick der „Visual History“ verbindet historisches und kunsthistorisches Wissen, und sensibilisiert den Blick der Betrachter*innen. Denn Bilder sind nicht immer, was sie scheinen – und ihre Deutung verlangt Feingefühl, Wissen und Erfahrung. Vor wenigen Tagen hatte ich das Vergnügen, den Vortrag einer jungen deutsch-israelischen Forscherin zu moderieren, die ein ungewöhnliches Konvolut von Fotos vorstellte: Schnappschüsse, die jüdische Jugendliche mit ihren eigenen Kameras machten, die sie vielleicht zu Bar und Bat Mitzvah oder zum Geburtstag erhalten hatten. Wir sehen auf diesen Bildern Teenager, die mit ihren Fahrrädern von Bonn nach Köln radeln, oder per Anhalter durch Deutschland unterwegs sind; Landschaften, Sehenswürdigkeiten, Straßenszenen. Das kleine, aber wichtige Detail, das diese Bilder erst im richtigen Licht erscheinen lässt: Die Fotos wurden teilweise 1936 aufgenommen, zum Teil 1939 – zu einer Zeit also, als das Leben und die Mobilität von Jüdinnen und Juden in Deutschland bereits eingeschränkt und ihnen viele Aktivitäten verboten waren. Trotzdem gelang es ihnen, sich ein kleines Stück Unabhängigkeit und Mobilität zurückzuholen und diese kurzen Momente auch zu dokumentieren. Keine Frage, es erforderte Mut, per Fahrrad oder Anhalter unterwegs zu sein, obwohl der öffentliche Raum feindlich oder gefährlich war; diese Ausflüge obendrein zu dokumentieren; und schließlich die Fotoalben auf die Flucht mitzunehmen und für die zukünftige Erinnerung zu retten. Diese Bilder dokumentieren nicht die Verfolgung und wachsenden Einschränkungen, sondern die kurzen, mutigen Fluchten junger Männer und Frauen, die eine große Ausnahme und Seltenheit darstellten. Auf Umwegen erzählen uns diese erkämpften Handlungsspielräume davon, wie bedrängt der Alltag gewesen war, aus dem man sich davonstahl.

In Knickerbockern und mit Rucksäcken holten sich diese Jugendlichen ein Stück weit den öffentlichen Raum zurück, der ihnen durch das Regime genommen worden war. In ihren Fotographien schrieben sie sich selbst trotzig in Straßen und Ansichten ein, in denen für Jüdinnen und Juden und Angehörige anderer Minderheiten kein Platz mehr vorgesehen war. Das Regime bestimmte, dass seine angeblichen Feinde innerhalb der deutschen Bevölkerung im öffentlichen Raum nur mehr in negativen, verzerrten Bildern dargestellt werden durften: in der Propaganda des „Stürmers“ etwa, wo regelmäßig die angeblichen Verschwörung eines „Weltjudentums“ in Karrikaturen visualisiert wurde; oder im Spielfilm „Jud Süss“, der Juden als Vergewaltiger deutscher Frauen darstellte und den 20 Millionen Menschen sahen; oder auch in den großen Propagandaausstellungen wie der Schau „Der ewige Jude“ – die im November 1937 hier in München, im Bibliotheksbau des deutschen Museums eröffnet wurde.

Auf 3500 Quadratmetern und in 20 Sälen inszenierten damals die mit der Ausstellung beauftragten Kuratoren hetzerischen Antisemitismus in Objekten, gefälschten Statistiken, ins Monströse vergrößerten Fotos und angstmachenden Weltkarten. Ein begeisterter Joseph Goebbels reiste an, Schulklassen wurden zwangsverpflichtet, über 5000 Besucher*innen kamen jeden Tag. Die Ausstellung wanderte weiter nach Wien, Berlin, Bremen, Dresden und Magdeburg und wurde von über einer Million Menschen gesehen. Eine ähnliche Schau wurde im Herbst 1941 im besetzten Paris einem französischen Publikum vorgesetzt. Lobend kommentierte der Völkische Beobachter: „So hat diese absolut objektive, fast leidenschaftslose Ausstellung den Zweck, jedem die Augen zu öffnen anhand unwiderlegbarer Dokumente.“ Zu diesen angeblich objektiven Dokumenten zählten: Nasen, riesenhaft vergrößerte Nasen, Münder und Ohren, groteske Karnevalsobjekte in musealen Glasvitrinen. Dazwischen fanden sich, kleiner und fast schon unscheinbar, Gipsmasken deutscher Jüdinnen und Juden – in Konzentrationslagern angefertigte Lebendmasken, mit denen deportierte und gequälte Menschen in Ausstellungsobjekte transformiert wurden.

Die Tradition der Lebendmasken reicht zurück bis ins späte 19. Jahrhundert, als in der deutschen Kolonie Papua-Neuguinea Gipsmasken der indigenen Bevölkerung angefertigt wurden, die man später kolorierte und im Berliner Wachsfigurenkabinett ausstellte. Diese koloniale Technik, Gesichter in Objekte für die Wissenschaft zu verwandeln, wurde bald von der Fotographie abgelöst. Nicht zufällig holten Nazi-Kuratoren diese koloniale Praxis 1937 zurück ins Museum – es galt, aus Deutschen Fremde zu machen, aus bekannten Gesichtern „Unzivilisierte“, aus Vertrauten Feinde. Material und Technik sollten visualisieren, was die Propaganda täglich in ihren Slogans und Hetzreden wiederholte: dass es Deutsche gab, denen alles zustand, und solche, denen alles abgesprochen wurde – auch das Deutschsein und die damit verbundenen Rechte.

Die Weimarer Republik war zweifelsohne eine problematische, fehlerhafte und fragile Demokratie gewesen – aber sie war näher an einer offenen, vielfältigen Gesellschaft, als alles, was Deutschland bis dahin erlebt hatte. Weimar brachte Freiheiten und ein neues Selbstverständnis für Frauen, Minderheiten und eine bis dahin weitgehend stumme Jugend. Dieses rasche und wilde Aufblühen gesellschaftlicher Diversität wurde 1933 mit allen Mitteln aus dem öffentlichen Leben entfernt, Museen und Bibliotheken wurden von ihr gesäubert, ihre Vertreter*innen unterdrückt und verfolgt. An Stelle der Vielfalt rückte eine imaginierte „Volksgemeinschaft“, weiß, homogen, nationalistisch, antisemitisch – eine Gesellschaft, die angeblich die Kontinuität deutscher Kultur und Tradition repräsentierte und dabei die Geschichte der modernen Migration ungeschrieben machen wollte. Die meisten Jüdinnen und Juden, die 1933 zu Fremden und Feinden erklärt wurden, lebten seit Generationen in Deutschland. Um ihre Isolation, Beraubung und Verfolgung zu rechtfertigen, bediente man sich alter antisemitischer Feindbilder und vermischte sie mit (anti)modernen Verschwörungsmythen und pseudowissenschaftlicher Rassenforschung.

Eine der Gipsmasken, die 1937 in München ausgestellt wurden, zeigte Werner Scholem, der zu Beginn der Zwanziger Jahre ein bekannter deutscher Politiker gewesen war. Der Sohn aus bürgerlich-jüdischem Haus und Bruder des späteren Religionswissenschaftlers Gershom Scholem machte sich zu Beginn der Weimarer Republik einen Namen als einer der jungen Radikalen in der kommunistischen Partei. Damals entwickelte Joseph Goebbels eine persönliche Feindschaft gegenüber Scholem – eine gefährliche Prominenz: Mitte der 1920er Jahre zierte sein Porträt nationalsozialistische Wahlplakate. Kurz darauf geriet Scholem in Clinch mit den Stalinisten in der KPD – und flog 1926 aus der Partei.

Doch trotzdem tauchte sein Konterfei mehr als zehn Jahre später in der großen Münchner Propagandaausstellung auf – als Inbegriff des Feindes im eigenen Land, des jüdischen Bolschewisten. Die Gipsmaske war im KZ Dachau angefertigt worden, wo Werner Scholem damals inhaftiert war. Eine entfernte Verwandte entdeckte das Objekt in der Ausstellung – wäre nicht auch ein Namensschild angebracht gewesen, hätte sie ihn nicht erkannt: Vier Jahre Haft in Gefängnissen und Konzentrationslagern hatten Spuren an dem 41Jährigen hinterlassen, und die Gipsmaske zeigte einen älteren Mann. Weniger als 3 Jahre später, im Sommer 1940, wurde Werner Scholem im KZ Buchenwald erschossen – einer von Zigtausenden, die grundlos aus der Gemeinschaft der deutschen Nation ausgeschlossen worden waren und derer man sich erst Jahrzehnte später wieder erinnerte – wenn überhaupt.

„Es gibt Menschen“, so schreibt der vietnamesisch-amerikanische Schriftsteller Ocean Vuong, „die meinen, Geschichte vollziehe sich als spiralförmige Bewegung und nicht linear, wie wir vermuten. Wir bewegen uns auf einer Kreisbahn durch die Zeit, und unsere Entfernung wächst von einem Epizentrum fort, nur um wieder reduziert um eine Windung, dorthin zurückzukehren.“ Die Vergangenheit ist nicht abgeschlossen, sondern über biographische und strukturelle Kontinuitäten mit dem Heute verbunden. Auch wenn Geschichte sich nicht wiederholt, ähnelt sie sich doch, wenn wir über Strukturen der Ausgrenzung, faschistische und populistische Ideologien oder Rassismus und Antisemitismus nachdenken.

In diesem Sinn ist auch das Erinnern ein Prozess, der sich aus der jeweiligen Gegenwart nährt – das Erinnern an Nationalsozialismus und Holocaust reflektiert diese Prozesshaftigkeit besonders deutlich, weshalb der gern gebrauchte Begriff der Erinnerungskultur irreführend ist: Ohne Kenntnis seiner Genese könnte man glauben, es handle sich um eine per Dekret beschlossene politische Entscheidung, die das Erinnern in den 1950er oder 60ern in die Parlamente und Innenstadtlagen geholt und eine breite Gedenkkultur installiert hat. Nichts an diesem Begriff verweist auf den langwierigen, konfliktreichen und oft schmerzhaften Prozess, der fast ausnahmslos auf die hartnäckige Initiative Einzelner – auf Lehrer*innen und Mitglieder von lokalen Geschichtswerkstätten – zurückging; ein Prozess, der erst 45, 50 Jahre nach Kriegsende erste große und sichtbare Erfolge verzeichnete.

Was heute gern mit Stolz unter den Errungenschaften der „deutschen Erinnerungskultur“ genannt wird, verdanken wir in erster Linie den Überlebenden. Noch 1966 befürchtete Jean Améry, dass es für deutsche Jugendliche dereinst unmöglich sein werde, Goethe zu zitieren, aber Himmler auszulassen. Améry war einer von vielen Überlebenden, die schmerzhaft zu Zeugen der deutschen Verdrängung und Ignoranz der Nachkriegsjahre wurden. Sie waren es, die über Jahrzehnte einen widerständigen Kampf für das Erinnern geführt haben, und es dauerte bis in die 1980er und 90er Jahre, bis ihre Erzählungen endlich ein breites Publikum erreichten. Noch Ende der 1980er Jahre führte Saul Friedländer einen richtungsweisenden Briefwechsel mit Martin Broszat, dem Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte. Broszat vertrat die damalige Sicht der deutschen Zeitgeschichte, als er die Erinnerungen der Überlebenden zu „geschichtsvergröbernde(n) Mythen“ degradierte, die einer objektiven, auf den Hinterlassenschaften der Täter basierenden Wissenschaft gegenüber stünden. Den Tätern und ihren Nachkommen wurde damit größere Sachlichkeit und Neutralität zugesprochen als den Zeitzeug*innenn und ihren Nachkommen. Friedländer, Überlebender und Professor für Geschichte in Israel und den USA, konterte und forderte eine „integrierte Geschichte“, die Täter- und Opferperspektiven verknüpft und sich damit von einer Deutungshoheit der Täternation loslös. Friedländers Forderung nach einem multiperspektivischen Erinnern brachte einen damals längst fälligen Wandel im deutschen Nachdenken über die nationalsozialistischen Verbrechen – und sie kann als Vorbild dienen für die Aufarbeitung anderer Traumata, von rassistischer und kolonialer Unterdrückung. Seine Geschichte zeigt, wie wichtig widerständiges Denken für die Ausbildung von Erinnerungsdiskursen war – und es bis heute ist.

Am kommenden Dienstag werden meine Kolleg*innen und ich das große Vergnügen haben, die Türen des NS-Dokumentationszentrums am Max Mannheimer-Platz wieder zu öffnen. Vor einem Jahr, kurz vor den ersten pandemiebedingten Schließungen, war in den Räumen unseres Hauses noch die Ausstellung „Tell me about yesterday tomorrow“ zu sehen – eine Ausstellung, die von der Presse unter dem Titel „.Erinnern, um die Welt neu zu denken“ besprochen wurde – und darin lag auch ein Ziel der Schau. Über 50 teilweise eigens für die Ausstellung entstandene künstlerische Arbeiten stellten Fragen an die deutsche Erinnerungskultur oder brachten diese in einen Austausch mit anderen kulturellen und nationalen Diskursen über traumatische Vergangenheiten. In diesem Rahmen entstand auch die Arbeit „The Steeple and the People“ der kanadischen Künstlerin Ydessa Hendeles, die in der Kirche der Abtei St. Bonifaz zu sehen war. Die als Tochter von Auschwitz-Überlebenden in Deutschland geborene und in Kanada aufgewachsene Künstlerin ließ sich mit ihrer Installation sensibel auf diesen besonderen Ort ein. In St. Bonifaz, als Kloster und Gemeindezentrum, stehen Gebet, Einkehr und Gemeinschaft im Vordergrund. Ydessa Hendeles schuf dafür eine zeitgenössische künstlerische Fabel, die – rund um die Geschichte der jüdischen Gemeinde Fürth – eine alternative, utopische Auslegung einer eigentlich dystopischen Erzählung der Vergangenheit entwickelte: Trennung und Verfolgung wurden dabei in eine Geschichte von Akzeptanz und Hoffnung verwandelt. Im Zentrum der aufwendigen Installation befand sich eine kleine, zerknitterte Fotographie einer Gruppe von Jugendlichen und Erwachsenen aus dem Jahr 1932 – das einzige Familienfoto des Vaters der Künstlerin, das er wahrscheinlich über seine Jahre in Auschwitz bei sich getragen und gerettet hatte. Und da ist sie wieder, die dystopische Vergangenheit, die sich nicht vergessen lässt und sich nicht vergessen lassen darf. Es ist dem Abt von St. Bonifaz, Johannes Eckert, und dem Gemeindepfarrer, Korbinian Linsenmann zu verdanken, dass dieses vielschichtige Kunstwerk, ein Meisterbeispiel der visual history und der Gedächtnisarbeit, beinahe ein Jahr lang in die Gemeindearbeit der Pfarrei und das Alltagsleben der Abtei integriert wurde.

Im Rahmen der Ausstellung waren auch einige künstlerische Arbeiten mit Bedacht in den Räumen der historischen Dauerausstellung „München und der Nationalsozialismus“ platziert worden, darunter das Werk „Entryways“ der amerikanischen Künstlerin Diamond Stingily: eine abgenutzte Holztür, an der ein Baseballschläger lehnt. Stingily thematisiert damit die Gewalt und Exponiertheit, die den Alltag von Afroamerikaner*innen und POCs in Amerika prägen. Für die Künstlerin hat dieses Bild auch eine positive Konnotation, indem es an den geschützten Ort erinnert, den ihre Großmutter für ihre Enkelkinder geschaffen hat. In München war „Entryways“ umgeben von Fotos und Dokumenten zur Entsolidarisierung und Radikalisierung der Münchner Gesellschaft durch die junge NS-Bewegung und ihre Sympathisant*innen in Politik, Polizei und Justiz in den frühen 1920er Jahren. Als eine Gruppe amerikanischer Politiker*innen im Winter 2020 die Ausstellung besuchte, löste dieses Objekt und seine Platzierung eine emotionale Diskussion aus: über den deutschen Umgang mit der eigenen Geschichte und über die Frage, welche Herausforderungen sich daraus für den amerikanischen Kontext ergeben. Die Trump-Präsidentschaft hat in Amerika heftige geschichtspolitische Debatten in Gang gesetzt, an denen sich ablesen lässt, wie zentral die Deutung von nationalen Vergangenheiten für die aktuelle Krise der Demokratie ist. In dem Gespräch der Politiker*innen untereinander fiel auch die Bemerkung, dass die Nazis das absolute Böse gewesen wären und deshalb mit nichts vergleichbar. Eine solche Charakterisierung der Täter als a-menschliche Monster ist jedoch zu einfach, denn gerade im Menschsein der Täter liegt die wahre Drastik und Dramatik, wie die eingangs erwähnten Aufnahmen des feiernden Mordpersonals belegen.

Aber auch die Frage der breiten gesellschaftlichen Verantwortung – jenseits der bekannten Täterfiguren – spielt eine Rolle, wenn wir aus der historischen Erfahrung lernen wollen: im Besonderen aus der schleichenden Radikalisierung einer toleranten Gesellschaft; aus dem Empathie-Verlust gegenüber Freunden, Nachbarn oder Kollegen; aus der Verantwortung der Ermöglicher und Unterstützer – im Fall Hitlers der Münchner Oberschicht und der Industrie; und natürlich aus der Rolle der unscheinbaren Mitläufer; der Profiteure und Stillhalter, die das Rückgrat des Regimes bildeten. Die Grauzonen sind es, aus denen die Relevanz und Notwendigkeit gesellschaftlicher Solidarität, Verantwortung und Zivilcourage spricht.

Haben wir also alles richtig gemacht und können stolz sein auf eine Erinnerungskultur, die erfolgreich in den deutschen Innenstädten und Parlamenten angekommen ist? Ja und Nein, bedenkt man, dass momentan in denselben Parlamenten eine „Erinnerungswende“ gefordert wird, und durch ebendiese Innenstädte Pandemieleugner im Verbund mit Verschwörungsfanatikern und Rechtsradikalen marschieren und sich als Opfer einer „Corona-Diktatur“ begreifen, mit gelbem Stern an der Brust und Vergleichen mit Anne Frank und Sophie Scholl im Mund. Was ist falsch gelaufen, wenn gewaltsame antisemitische und rassistische Übergriffe zunehmen, wenn rechtsextreme Ideologien in Polizei und Militär kolportiert werden – ohne dass eine Gesellschaft sich geschlossen und solidarisch zur Wehr setzt? Wenn in der Woche des Internationalen Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus – und damit auch der als „Zigeuner“ verfolgten und ermordeten Roma und Sinti – in einer Talkshow darüber schwadroniert wird, dass an dem Begriff „Zigeunerschnitzel“ doch wirklich nichts Verletzendes sei? Wenig später erinnerte Deutschland sich der Toten von Hanau am ersten Jahrestag des terroristischen Anschlags: Unter ihnen war auch die deutsche Romni Mercedes Kierpacz, deren Urgroßvater in Auschwitz vergast worden war.

Hat der Geschichtsunterricht versagt? Oder verblasst die Erinnerung in einer Art natürlichem Vorgang, weil die zeitliche Distanz wächst? So wichtig ritualisiertes Gedenken ist (und daran habe ich keinen Zweifel), bleibt es doch inhaltsleer oder läuft Gefahr, instrumentalisiert zu werden, wenn sich keine Verantwortung für politisches Handeln, für Menschlichkeit und Empathie daraus ableitet.

Kürzlich wurde ich in einem Interview gefragt, ob nicht auch heutige Stätten jüdischer Kultur in Deutschland als Erinnerungsorte betrachtet werden müssten? Diese Frage enthüllt den Kern eines großen Problems unserer Erinnerungskultur. Denn Synagogen oder Kulturzentren von Roma und Sinti sind keine Erinnerungsorte der deutschen Verbrechen und Genozide – sie sind Symbole dessen, was vergessen wurde: die Geschichte der Diversität und Vielfalt vor 1933, die der Homogenisierungswahn der Nazis aus Bibliotheken, Museen, Archiven und dem Bewusstsein der Menschen „gesäubert“ hat, und damit die Kontinuität eben dieser Diversität nach 1945. Die Drohung, aus dem europäischen Gedächtnis gelöscht zu werden, war den Verfolgten nur allzu bewusst: Im Warschauer Ghetto fand sich eine Gruppe von Intellektuellen um den Historiker Emanuel Ringelblum und sammelte alles, was an Dokumenten und Artefakten auffindbar war, um nicht nur die Geschichte des Ghettos und der Verfolgung zu dokumentieren, sondern auch die Geschichte des polnischen Judentums vor 1939.

Bis heute finden sich viele Bücher, die Wolfgang Hermann 1933 auf seine „Schwarze Liste“ aufnahm und die daraufhin öffentlich verbrannt wurden, nicht mehr in deutschen Bibliotheken, bis heute tauchen Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti, und andere in vielen Schulcurricula gar nicht oder nur als Verfolgte auf – nicht aber dort, wo ihr Platz wäre: im Zentrum der deutschen Geschichte als einer multiperspektivischen Erzählung. Diversität, gegenwärtige und vergangene, hat sich nicht adäquat in ein deutsches Kulturverständnis eingeschrieben, und es gilt, neue Erzählungen zu entdecken und vergessene Menschen zu feiern. Um globale, rechtsextreme Allianzen abzuwehren, brauchen wir eine offene Gesellschaft, in der Minderheiten ohne Vorbehalte geschützt werden und Anteil haben an demokratischen Prozessen und an Erinnerungsdiskursen – nicht als zu erziehendes Publikum oder gar als „Objekte“ in Sammelgebieten von Museen, Archiven oder Bibliotheken, sondern als aktive Träger*innen einer vielfältigen Kultur und Erinnerung.

Claus Hierluksch und Ricarda Fuss, Mitglieder des Arcis Saxophon Quartetts